Waffenabgabe in Mesetas: Eine Schule in Krieg und Frieden

Die dünnen Fensterscheiben klirren bedächtig in ihren Metallrahmen, während ein mächtiges Getöse über das Dach der Schule hinwegfegt. Ich versuche schlaftrunken die Augen aufzukriegen und schaue noch liegend zu den zitternden Fenstern und hinaus in den bewölkten Himmel. Einige der schmutzigen Scheiben scheinen sich noch nicht entschieden zu haben, ob sie fallen sollen, einige andere fehlen schon und lassen eine feuchtkühle Morgenluft herein. Ich ziehe mich langsam aus dem viel zu dünnen Schlafsack, über den ich zum Schutz noch meine Regenjacke und Plastiksäcke gelegt hatte, trotzdem hatte ich nachts gefroren.

Im Nebenraum erwachten jetzt auch die Journalisten vom El Espectador mit denen ich den Schlafplatz geteilt hatte. „Verflucht er ist zu früh“ höre ich sie meckern. So hochgeschreckt springen sie wie Soldaten zum Kampfeinsatz zu ihren Kameras und noch in Pyjama und Boxershorts aus der Tür. Ich blicke wieder aus den Fenstern dem Dröhnen entgegen und sehe, wie ein kleiner schwarzer Punkt aus den Wolken stürzt und immer größer zu werden scheint, bis er schließlich über das Dach der Schule hinwegbraust. Ejército Nacional de Colombia steht in kampferprobten Lettern auf seinem graugrünen Bauch geschrieben.

 

 

Der Hubschrauber landet nicht weit vom Schulhof entfernt. Von der Veranda aus kann ich sehen, wie sich die Ladeluke öffnet und einen Pulk von Menschen ausscheidet. „Mist, nur ein paar Journalisten und dafür wecken sie uns. Wieso können die nicht wie alle anderen mit dem Bus kommen.“ Die Motoren laufen noch und die Piloten scheinen nicht zum Frühstück bleiben zu wollen, denn schon erheben sich die Rotorblätter wieder und die Maschine schwingt sich vor dem Andenpanorama davon.

Gestern landeten auf dem gleichen Stückrasen schon die Kommandanten der Guerilla der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia). Heute sollen nun auch Präsident Santos und viele weitere politische, militärische und internationale Persönlichkeiten kommen. Für diese wurde sogar ein rundliches rotes Feuerlöscherwägelchen angekarrt, für das Generalsekretariat der FARC wurden diese Sicherheitsvorkehrungen nicht getroffen. Man stelle sich vor, was ein Unfall oder Anschlag gegen einen dieser Helikopter für Kolumbien bedeutet hätte.

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Die „Profe“ auf ihrer Veranda ©Stephan Kroener

Schon fliegt ein weiterer Hubschrauber über uns hinweg, diesmal ein kleineres Modell. Es sind Polizei- und Militär- oder auch Regierungsmaschinen, die im zehn bis fünfzehn Minutentakt vor der Schule landen. Mit der „Profe“, der Dorflehrerin trinke ich Kaffee, während sich jemand vom kolumbianischen Secret Service bei ihr eine Machete leiht: „Aber wiederbringen“ bläut die stämmige Lehrerin dem jungen Mann ein. Seit 18 Jahren lehrt Helena Trujillo Bauernkindern Lesen und Schreiben. Ein anderer Beruf kommt für sie nicht in Frage. Sie ist nicht nur Lehrerin sondern auch Ansprechpartnerin, Zweitmutter und Krankenschwester.

Ihre Schüler marschieren bis zu anderthalb Stunden „Berg rauf, Berg runter“ zum Unterricht. 19 sind es zurzeit, vom Vorschulalter bis zur Fünften Klasse und Helena unterrichtet sie alle und zwar gleichzeitig in Mathematik bis Englisch. Heute haben sie frei, auch aus Sicherheitsgründen, denn die benachbarte Übergangszone der FARC zelebriert an diesem Dienstag die offizielle Waffenabgabe. Nicht nur aus Angst vor Anschlägen haben sie frei, „Die Kinder sind es nicht gewohnt so viele Autos auf der Straße zu haben. da kann schnell was passieren.“ Außerdem machen ihnen die Militärhubschrauber Angst.

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Kinder auf dem Schulweg ©Stephan Kroener

Früher waren Gefechte zwischen der Guerilla und der Armee in der Region nicht selten. Helena erinnert sich noch gut, wie vor ein paar Jahren ein Hubschrauber über die Schule hinwegbrauste und Maschinengewehrsalven abfeuerte. „Die Kinder waren gerade erst aus der Schule und über den Zaun geklettert, um nach Hause zu gehen. Schreiend liefen sie zu mir zurück und wir verschanzten uns unter den Tischen“. Man merkt ihr an, wie tief sie dieser Moment noch bewegt und was das Zittern der Fensterscheiben für sie bedeutet.

Bevor sie nach Mesetas kam, arbeitete sie an Schulen in Orten, die nach Krieg und Massaker klingen. Miraflores und Mapiripán liegen ebenfalls im Departamento Meta im Südosten Kolumbiens. Ihre jetzige Schule steht auf einer Anhöhe der Gemeinde Buenavista, direkt an der Straße zur Regionalhauptstadt Mesetas. Auf dieser parken nun dutzende weiße SUV-Geländewagen. Alle mit geöffneter Motorhaube, um dem Secret Service die Arbeit zu erleichtern. Mit Spiegeln schauen sie unter die Autos. Einer der Fahrer witzelt: „Ganz schön viel Dreck, was? An dem mangelt es hier nicht“. Morgan schnüffelt über den Schulhof. Der helle Labrador führt sein uniformiertes Herrchen am Zaun entlang und entleert sich gelangweilt an einem Holzpfosten. Andere Soldaten laufen mit Metalldetektoren den Landeplatz ab.

 

Die Machete kommt zurück und Helena bietet dem Mann einen Tinto an. Er winkt überrascht den Kaffee ab und verschwindet wieder zu den anderen, die ihre normalerweise dunklen Anzüge gegen eine Art beige Tropenuniform getauscht haben. Sie ähneln mit ihren Multifunktionswesten und Cargohosen ein wenig an Parkwächter oder auch an ausländische Abenteuertouristen auf Dschungelexpedition. Nur der obligatorische Knopf im Ohr verrät sie.

Farblich passen sie sich aber damit auch den Uniformen der Soldaten an, die aus psychologischen Gründen ihre grüne Kampfmontur ab- und den vordergründig neutraleren Desert-Storm-Look angelegt haben. Dies soll wohl den Guerilleros, die nur ein paar hundert Meter entfernt ihre Waffen abgeben, bedeuten, dass der Krieg vorbei ist und dass in Kolumbien nun nach über 50 Jahren bewaffnetem Konflikt ein gewisser Frieden einzieht.

 

An der gelbgestrichenen Schule schreitet fröhlich ein endloser Strom von weißgekleideten Guerilleros vorbei. Sie kommen aus dem angegliederten Übergangslager, in dem die bisher amnestierten Gefangenen der FARC leben. Es sind einige hundert, ihre Narben des Krieges kontrastieren mit dem glücklichen Lächeln des Friedens in ihren Gesichtern. Für sie hat der Friedensprozess, der Ende vergangenen Jahres seinen Abschluss gefunden hat, schon jetzt positive Auswirkungen. Aus den überfüllten und teilweise unmenschlichen Gefängnissen wurden sie auf eine grüne Wiese mit Einzelzimmern gesetzt. Zweimal am Tag kommt ein Wärter vorbei und zählt durch, ob noch alle da sind und bis jetzt fehlte noch keiner.

Dass keiner flieht hat seinen Grund, denn sollte der Friedensvertrag in der Form umgesetzt werden, wie er unterzeichnet wurde, dann können sich die Guerilleros auf ein normales und besseres Leben freuen, aus dem wohl niemand mehr ausbrechen möchte. Die Ehefrau eines der ex-Inhaftierten ist zu Besuch gekommen. Sie erzählt mir die Geschichte von einem dieser „Kriminellen“.

„Wir stammen aus dem Departamento Huila im Südwesten Kolumbiens. Dort ist die Guerilla traditionell sehr stark. Der Vater meines Mannes weigerte sich die Zwangssteuern der FARC zu bezahlen und wurde deswegen von ihnen umgebracht. Meine Brüder arbeiten für die Polizei und das Militär und weil ich ihnen die Uniformen wusch, wurden wir von der Guerilla bedroht. Daraufhin entschieden sich mein Mann und ich nach Caquetá zu ziehen, noch etwas weiter im Süden an der ecuadorianischen Grenze.“

„Wir bauten uns eine kleine Finca auf und zogen unsere vier Kinder groß. Wir hatten Angst um sie und unterwarfen uns deshalb dem Ley de Monte (dem Gesetz des Berges, dem Rechtssystem der FARC). Wenn die Guerilla vorbei kam, gaben wir ihnen Essen oder was sie sonst wollten. Vor knapp zehn Jahren wurde mein Mann verhaftet und als Unterstützter der Guerilla angeklagt. Ich und die Kinder flohen dann nach Bogotá, weil wir Angst vor den Paramilitärs hatten, die uns ja jetzt als Guerilla-Familie sahen.“

 

Der glückliche Zug der Gefangenen erinnert krude an Bilder von geschlagenen Armeen, auch wenn sich die FARC nicht als besiegt betrachtet. Zwischen ihnen laufen Kinder, ein kleiner blonder Lockenkopf schaut heraus. Die Worte die sein Vater ihm zuruft, können leicht auch für die Guerilleros gelten: „Vamos terremoto, pa’lante siempre porque por ‚trás asusta“ („Komm Erdbeben, vorwärts immer weil nach zurück erschreckt man sich“).

Sie tragen nur noch teilweise Uniformhosen aber zum Großteil die charakteristischen Gummistiefel. Musik dröhnt aus Aktivboxen. Einige sind verstümmelt oder gezeichnet durch Narben des Krieges, körperliche wie seelische. Es ist ein Bild gegen jede Art von Krieg, zu sehen, wie einer von ihnen in der rechten Hand eine weiße kleine Flagge mit einer Friedenstaube hochhält, während der linke Armstumpf herunterhängt. Sie winken dem weißen Hubschrauber zu, aus dem jetzt die Mitarbeiter der UNO in ihren blauen Westen steigen.

 

Der Chefunterhändler der UNO-Mission in Kolumbien Jean Arnault, spricht gerade zu den Journalisten, die ihn umringen: „Wir bleiben solange im Land, wie es die Kolumbianer möchten“. Das wird auch noch länger nötig sein, denn der Friedensprozess ist immer wieder durch politische Attacken ultrarechter Kreise gefährdet, die Kolumbien in Gefahr sehen, zu einem zweiten Venezuela, zu einer „castro-chavistisch-kommunistischen“ Diktatur zu mutieren.

Diese Angst resultiert direkt aus dem 50-jährigen Konflikt. Die ideologischen Fronten sind verhärtet und viele Kolumbianer in den Städten können sich einen Frieden mit einer Guerilla nicht vorstellen, die ihnen von den Medien und Politikern immer wieder als eine einfache kriminelle Drogenbande vorgestellt wurde, die es auszulöschen gilt. Unter dieser Stigmatisierung litten und leiden auch heute noch die Bewohner der Gegenden in der die Guerilla stark war und ist.

„Für uns bedeutet der Frieden endlich ein Ende dieser Diskriminierung“ meint Helena. „Früher kam die Armee und belästigte uns, sie bezeichneten uns als Guerilla-Ratten und nahmen sich was sie wollten“. „Es ist richtig, dass wir Kontakt zur Guerilla hatten und dass wir dem Ley de Monte folgen mussten, aber wir gehören nicht direkt zu ihnen, irgendwie mussten wir uns doch einrichten in diesem Konflikt, sonst wären wir zwischen den Fronten aufgerieben worden.“

Die Guerilla legte Minen in der Gemeinde, auch in der Nähe der Schule. Aber sie bezeichneten der Dorfgemeinschaft auch wo sie lagen und erklärten der Lehrerin wo die Kinder nicht spielen durften, auch, weil einige von ihnen ihre eigenen waren. Die Verwendung von Landminen ist eines der dunkelsten Kapitel des Konfliktes und Kolumbien gehört immer noch zu einem der verseuchtesten Länder mit dieser Kriegsplage. Mesetas wurde im Februar für minenfrei erklärt, dies ist ebenfalls ein Erfolg des Friedensprozesses.

 

Die Lehrerin glaubt nicht, dass Santos nun zu ihnen auf einen Tinto vorbeikommt, auch wenn er in ihrem Vorhof landet. „Der Staat ist hier nicht präsent, es fehlt an allem“. Doch der Frieden hat auch für die Schule schon direkte, auch materielle Veränderungen bewirkt. „25 Löcher haben wir noch letztes Jahr im Dach der Schule gezählt. Als jetzt die Arbeiten für die Übergangszone begannen, bekamen wir nach längerem Bitten von den Arbeitern Wellblech zum Ausbessern geschenkt“.

Auch Elektrizität erreicht endlich die Gemeinde im Zuge des Friedensprozesses, zwar nur an der Hauptstraße und der Schule aber dennoch eine gewaltige friedliche Revolution für das Dorf. Ebenso geht die Einrichtung einer öffentlichen und mobilen Bibliothek auf den Friedensprozess zurück. Die Ausstattung ist üppig, geradezu luxuriös und passt so gar nicht zu dem maroden Klassenraum. Ein Flachbildschirm und Videoprojektor gehören ebenso dazu wie über 500 Bücher, ein Drittel davon Kinderromane.

 

Doch der größte Erfolg ist, dass die Hubschrauber die jetzt über der Schule kreisen, keine Bomben mehr abwerfen, sondern die Diskussion über die Zukunft Kolumbiens mit Worten ausgefochten werden soll. Frank Pearl einer der Väter des Friedensvertrages von Havanna, antwortete mir auf die Frage, wie es sich anfühlt, in der Wiege der Guerilla zu landen: „Es war ein hartes Stück Arbeit, sechs Jahre fast, aber endlich sind wir am Ziel unserer Reise“.

Auch der dreimalige Präsidentschaftskandidat Horacio Serpa humpelt vorbei. Auf meine Frage wie es denn nun ist, endlich ins Guerillagebiet reisen zu dürfen, rümpft er nur die Nase und meint „ich war schon des Öfteren hier“. Viele Kolumbianer erinnern sich noch an die Zeit der entmilitarisierten Zone von Caguán und an das Bild Serpas im Wahlkampf 2001 vor einem Guerillero, der ihm deutlich erklärte, dass er dort nicht erwünscht sei. Es war ein Affront für den Staat Kolumbien und ein persönlicher für Serpa.

 

Auch die Santos-Buben steigen aus einem der Helikopter. Warum der Präsident mit seiner ganzen Mischpoke anrücken muss, erklärt mir ein namenloser Zuschauer: „Politik ist in Kolumbien immer noch Familienangelegenheit“. Dann landet endlich der Papa selbst. Wohlig sitzt der Friedensnobelpreisträger von 2016 in einem dicken Ledersessel des Präsidentenhubschraubers. Gemächlich steigt er aus und wie ein Macher mit offenem weißem Hemd schreitet er die wenigen Meter Richtung SUV.

Auf dem Weg schüttelt er noch ein paar Hände und leiert einen wohlstrukturierten Diskurs aus der Tür des Geländewagens herunter. Die treuen Journalisten des Blu-Radios saugen diesen erfreut auf und plärren ihn unzensiert in die Welt. Zu der Schule und der Lehrerin dreht Santos sich nicht mal um, wahrscheinlich hat er sie nicht mal bemerkt.

 


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